Die Entdeckung der Zwischenräume Thomas Thorilds Opposition gegen die schwedische Hofkultur und sein Streit mit Johan Henric Kellgren
1. Kurzer Abriss der Ästhetik der Zwischenräume 2. Thorild und Kellgren als Autoren der Spätaufklärung 3. Thorilds oppositionelle Ästhetik im Kontext der Weltliteratur : Passionerna 4. Kellgrens Reaktion 5. Zusammenfassung
1. Zwischenräume - Orte zwischen entstehenden Nationalliteraturen im späten 18. Jahrhundert - Teilhabe an mehreren Literaturen, Kulturen und Sprachen ermöglicht ein breiteres Feld an Bezügen und Referenzen - Nationalliteratur vs. Weltliteratur
Nationalliteratur: - kollektives, kulturelles Gedächtnis einer Nation - Berufung auf bestimmte Tradition kanonisierter Texte (Voltaire, Horaz) - Etablierung einer gemeinsamen Kultur über gemeinsame Sprache und Fundus an überlieferten Texten - Bedeutung der nationalen Geschiche (Gustaf Wasa)
Weltliteratur Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! Hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. J.W. von Goethe: Die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin [1828]. In: Werke. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, München 1981, 363.
Weltliteratur - Grenzüberschreitend und kosmopolitisch - Übersetzungen als Voraussetzung für das Verständnis einer gemeinsamen Weltliteratur - Umfassender Wirkungsradius der Literatur - Weltliteratur als gesellschaftliche Aufgabe - Konzept gegen die sich etablierende Nationalliteratur
Zwischenräume - Repräsentationen eines nationalen Gedächtnisses [ ], in denen sich widersprechende und miteinander nicht zur vereinbarende Wiedergaben nebeneinander stehen können (Homi K. Bhaba) - Keine Homogenisierung und Kanonisierung, sondern produktive Nutzung von verschiedenen Strömungen
In Bezug auf mehrsprachige Autorschaften bedeutet das: - Spuren verschiedener Literaturen - Traditionsbewusstsein und Originalitätsstreben - Patriotismus und Kosmopolitismus - Tendenzen der Gegenläufigkeit/Heterotopien (Michel Foucault) - kultureller Dissens und kulturelle Alterität (Homi K. Bhabha)
Zwischenräume - Überschreitungen von sich etablierenden nationalen und landessprachlichen Grenzen - Räume, die innerhalb der Landes-, aber außerhalb der Sprach- und Kulutrgrenzen liegen (Greifswald, Kiel) - von literatur- und kulturhistorischen Epochen - Orte der Kreativität jenseits festgeschriebener Normen und Muster
Zwischenräume bezogen auf die Entwicklungen des ausgehenden 18. Jh.s: Grenzüberschreitungen zwischen Rationalität (als Errungenschaft der Aufklärung) und Irrationalität (als notwendige Ergänzung des modernen Subjekts/ Emotionalität als der Vernunft inhärentes Moment)
2. Konkretion Autoren der Spätaufklärung in Schweden - Thorilds Texte als Reaktion gegen den Hofgeschmack (snille och smak) - Dichterstreit - (National-)Kultur des schwedischen Königshofes unter Gustav III. gegen die empfindsamen Strömungen des europäischen Kontinents - Rationalität versus Irrationalität und Sensualismus - Regel versus Regellosigkeit
Thomas Thorild AKTEURE Johan Henric Kellgren
Johan Henric Kellgren (1751-1795) Dichter, Dramatiker, Kritiker, Publizist und Übersetzer (u.a. von Horaz und Voltaires Schriften) 1778 Gründungsmitglied von Stockholms Posten 1880er Jahre: Gunst Gustavs III., Opernlibretti: Gustaf Wasa, Drottning Christina. 1786 Gründungsmitglied von Svenska Akademien (nach Vorbild der Académie française) Repräsentant der von der Akademie geforderten regelhaften, aufgeklärten Dichtung
Thomas Thorild (1759-1808) Lyriker, Kritiker, Prosaautor, Veröffentlichungen auf schwedisch und auf deutsch 1782 Till utile dulci 1784 Herausgeber der Wochenzeitschrift Den nye granskaren. Motto der ersten Ausgabe: "Sapere aude!" 1791 En critik öfver critiker (programmatische Schrift über die Rolle und Funktion von Literaturkritik) 1793 Verurteilung zu vierjähriger Landesverweisung. Flucht nach Greifswald, dort ab 1795 außerordentlicher Professor für schwed. Literatur. Repräsentant der regellosen Poetik der Gegner der Hofkultur
Forschungsüberblick Dichterstreit seit den 1780er Jahren Öffentlich ausgetragen in Stockholms Posten Forum der aufgeklärten Öffentlichkeit Forschung: Thorild als Romantiker (in Atterboms Svenska Siare och Skalder; 1841-55; Martin Lamm: Upplysingstidens romantik, 1920/21; Horace Engdahl: Den romantiska texten, 1986) Kellgren als Autor der Aufklärung (Nils von Rosenstein; Martin Lamm, Horace Engdahl) Wiederentdeckung Thorilds als Aufklärungsliterat durch Ernst Cassirer (1941)
3. Thorilds oppositionelle Ästhetik im Kontext der Weltliteratur : Passionerna Gedicht Passionerna (1785) vorgelegt der Gesellschaft Utile Dulci Motto sapere aude Programmatische Vorrede Till Sälskapet utile dulci:
Ästhetik der Leidenschaften Tonen följer tankan: är lätt och strömmande: är häftig, stark, bruten: är ljuf, är vild: är vigtig, eller öfverfarande. Den rätta Läsningen är Förståndets och Känslans: ingen regel ger den. Men utan den - förloradt är det rörande af hela Skaldens skönhet! Versens egenteliga musik är enfaldig. Det högre förlorar sig evigt för denna - eller denna - graden af själar. Någon gång ropar man: gif mig en Författare. Likså ofta kan återropas: gif mig en Läsare! (Thomas Thorild: Passionerna, SS 1, 40)
- Bruch mit der am schwedischen Königshof nach französischem Vorbild erklärten Ideal der Normenpoetik - Thorild propagiert Regel der Regellosigkeit - Verstand und Gefühl bestimmen die Lektüre gleichermaßen - Forderung nach relationaler Lektüre / Leser - Inspiration durch die Genieästhetik, die sich dem Gegenstand und der Situation angemessen immer neu entwirft
Passionerna. Skaldstykke Skaldstykke in sechs Gesängen, Natur als Quelle und Ausdruck aller Leidenschaften Sechs Gesänge sind uneinheitlich aufgebaut, variieren in der Länge und Strophenanzahl; reimlos; uneinheitliches Metrum: hyperkatalektische Hexameter
Passionerna. Skaldstykke Från dit sköte, Natur! lät i ätheriska vågor Strömma öfver min Sång behag och rörande skönhet, Strömma förtjusning. Dig, ach dig, odödliga! milda! Alt-uplifvande, dig natur! min bäfvande harpa Stämmes. Tyst omkring mig sväfva, ossians ande!
Natur Stilideal (natürlicher, unverbrauchter Ton) Forderung nach natürlicher Dichtkunst Orientierung an Stilvorbildern der neuen Dichtung : Macphersons Ossian, Laurence Sterne, Klopstock (angelsächsische und deutsche Literatur als Alternative zur französischen)
4. Gesang kraft! i er, Guds söner, Verldens lärare, Vise! Dig, o Persias helige, zendas strålende ängel! Grekernas irrande Venus, öfverjordiske plato, Eller Albions ljus! dig, bjudande, kunglige bacon, Eller sublime, skapande, newton, montesquiou [!], leibniz, Eviga namn! Dig, ädle seneca: dig, Roms halfgud, tacitus! Stig, gracian, i ljus: stig rochefoucauld! Lär oss, O Försökande, segrande pope, alt-fattande, förd af shaftesburys seraf-glänsande, starka, odödliga ande. Väl dig, helvetius! Väl dig! människohjertats förtjusning, O rousseau, rousseau! sublime, harmoniske, ljufve! [...] (45)
- Katalog an europäischen Referenzen, die abgerufen werden (Goethe, Shakespeare, etc.) - Heterogener, weltliterarischer Referenzrahmen als Programm: Rückbezug auf unterschiedliche Traditionen - Die individuelle Leistung des lyrischen Subjekts: kühne Zusammenführung unterschiedlicher Positionen, die das Gedicht konstituieren (Programmatik)
- Alle Referenzen stehen metonymisch für eine radikale philosophische und literarische Aufklärung, - Ausbruch aus der Konvention - Programm: intellektueller, vernunftorientierter philosophischer Entwurf unter Einbeziehung der Emotionen, die in der französischen und schwedischen Hofkultur keinen Raum haben (englische und deutsche Tradition)
Grenzüberschreitungen in Bezug auf: Klassizimus: Dem steht die innovative Schöpferkraft, das ungebundene Genie, gegenüber Genie ist frei und ungebunden, es ist aber auch seinerseits Teil der Schöpfung. Teilhabe an einem transtextuellen Gefüge
Autonomie der Kunst Freiheit der Form, die sich unabhängig von literarischen Konventionen entwickeln soll, Freiheit der Kombination vorgefundener Muster und Traditionen, die in ihrer jeweils individuellen Zusammenstellung eine eigenständige, autonome Leistung präsentieren, Konzeption eines neuen Regelwerks
Selbsterklärung: Till sällskapet Utile Dulci [4.März 1782] Kritik am Geschmack (smak) der Gesellschaft und Konfrontation der schwedischen Kulturelite mit der europäischen Avantgarde -Kunst : Den allmänt, godkände smaken: ja i Paris och Stockholm! men Grekland och Rom och Ängland och Tyskland och Italien, sjunga Gudomeligen orimadt.
Till sällskapet Utile Dulci [4.März 1782] Den är för vigtig denna frågan om reglorna. Homeros, säjer man, är full af vildheter: Pindar har inga reglor. Horatius inga: Shakespeare, Milton, Klopstock, också Montesquieu inga! kanske vil man säja, inga allmänna, för at hafva af en högre art: man vinner ej det nya utan genom upoffring af det antagna, eller det mera fria och höga utan genom upsprång öfver vanligheten: [...]
Thorilds Ästhetik des Zwischenraums in Passionerna - Bruch mit der Regelpoetik - Heterogenes Verweissystem - Intertextualität als Voraussetzung für Originalität - Referenzen der politischen und ästhetischen Aufklärung und des Sensualismus, Sturm und Drang und der Genieästhetik - Aufklärung (Freiheit) als ästhetisches und politisches Programm - Reaktion der Gesellschaft Utile Dulci: 2. Preis für Thorilds Preisgedicht Beginn des Streits mit Kellgren
4. Reaktion Kellgrens Man äger ej snille för det man är galen. Skaldestykke, Insänt till Sällskapet: Pro sensu communi d I Sept. 1787 Er slutsats är förvänd. - En klok kan galen bli; Den snille är i ett, kan vurma i ett annat: Men tro att Snillets höjd är höjd av raseri, Se däri, mina barn, bedran I er förbannat. [...] Från dårskap är all last: all dygd av ljuset är. Ett brott mot vettets bud är brott mot Majestätet, Mot Mänskans majestät, och ditt, Regent! - ty lär, Där Fanatismen går, går Upproret i fjätet. [...]
Men, I, som bindelen på deras ögon lagt, Anförare! - Vad är den lön I efterleten? - Jag ser det - Ryktbarhet! allt lyder på din makt Och dåren, dåren själv vill nå odödligheten! Välan, den väntar er. Oss väntar i dess famn Den lagerkrans som mig, den tistel som er kröner - Hör det, o Eftervärld! Jag offrar deras namn Till åtlöje för dig, och dina söners söner!
- Wahnsinn-Metaphorik zur Abwertung der Gegner/ Wahnsinn vs. Vernunft - Regellosigkeit als antiaufkärerisches Programm - Kritik an den Swedenborgianern (Anhänger des aufgeklärten Mystikers Emanuel Swedenborg) - Kritik am Stil und der eklektischen Auswahl an intertextuellen Bezügen - Ideal der Stilreinheit (Klassizismus) - Sensualismus/Sturm und Drang/Genieästhetik als Ausdruck von Mode
Streit und Kritik Reaktion löst jahrelangen Streit aus: Ausgetragen in Stockholms Posten (zwischen Autorn till Passionerna und Kellgren) sowie in Thorilds Prosaschrift über die Rolle der Literaturkritik En critik öfver critiker (1791): Literaturkritik als eigenes Genre mit eigenem Regelwerk: Freiheit der Beurteilung (wider die Normierung) Gegenstand nur um seiner selbst willen kritisieren Genre berücksichtigen Bis in die deutschsprachigen Schriften hinein Kritik an epochalen, ästhetischen und nationalen Zuschreibungen
Kellgrens Kritik - heftige Gegenwehr: Polemik gegen Thorild und seine Anhänger (Bengt Lidner) - Kritik an Genieästhetik (Klopstock) - Ablehnung der zeitgenössischen deutschen Literatur - Stilideal: Französischer Klassizismus - Allmähliche Akzeptanz der Genieästhetik und Distanzierung vom Königshof: Den nya skapelsen (1790) Förord till Bellmans Epistlar och Sånger (1790)
5. Zusammenfassung Thorild - Anhänger der Aufklärung (sozial, politisch, ästhetisch in weitem Sinne) - Normenpoetik wird als Einschränkung von individueller Freiheit empfunden - Polemik als Methode - Eklektische Auswahl an Referenzen und kulturellen Bezügen Kellgren - Anhänger der Aufklärung (sozial, politisch, ästhetisch in weitem Sinne) - Normenpoetik als Stilideal (Voltaire, Horaz) - Stilreinheit als Methode - Klare Stilvorgaben
Thorild Kellgren - Betonung der Bedeutung und Wirkungsmacht von Literatur im Zeitalter der Aufklärung - Konzept von Weltliteratur - Hinwendung zur deutschen Philosophie - Betonung der Bedeutung und Wirkungsmacht von Literatur im Zeitalter der Aufklärung - Konzept von beginnender Nationalliteratur (schwed.-historische Themen) - Allmähliche Distanzierung und Hinwendung zur Genieästhetik